Mein letzter Beitrag veranlasste Frau sturmfrau (an dieser Stelle nochmal ein herzliches Danke dafür :-) ein paar Worte fallen zu lassen, die es meiner Meinung nach Wert sind, in einem gesonderten Beitrag zu erscheinen. Sie drücken nämlich das aus, was mir ebenfalls sehr am Herzen liegt. Sie schrieb:
Ich würde es aber begrüßen, wenn wir wieder selbstverständlicher mit Kindern umgehen würden. Das bedeutet aber auch, dass man sich mal überlegen müsste, wie man die Kinder wieder Kinder sein lassen kann, anstatt sie wie rohe Eier zu behandeln oder sie in den Mittelpunkt eines albernen Affentanzes mit Early English, Matschhosen und Fruchtzwergen zu stellen. Ich frage mich ernsthaft, wie Generationen von Kindern ohne all diesen Firlefanz groß werden und sich zum Teil auch noch zu authentischen, integren Menschen entwickeln konnten. Aber heutzutage darf ja ein Kind nicht mal mehr einfach nur spielen, sondern wird stundenplanmäßig von Verein zu Verein, von Frühüberforderung zu Frühüberforderung gekarrt. Ich bin überaus dankbar, dass ich noch auf Bäume klettern durfte.
Diese Frage, dürfen Kinder noch Kinder sein? stellte ich mir auch oft. Und zwar deswegen.

Bei unserem Großen wurde durch Diagnostik von Fachleuten (Kinderärzte, Sozialpädagogen, usw) ein Prozeß in Gang gesetzt, der mir manchmal die Zornesröte ins Gesicht trieb. Sätze wie kann dies nicht, kann das nicht und der Ruch der Behinderung hat uns beiden Eltern manchmal derart die Wahrnehmung vernebelt, daß wir keine andere Chance sahen, als unseren Sohn in die Mühlen der Frühförderung zu begeben. Es begann mit PEKiP, dann Krankengymnastik, ging dann über in die besondere Frühfördergruppe im KiGa, und gipfelte in einem Ausflug nach München in die Pädiatrische Diagnostik der Uniklinik, in dem wir ihn von einem "anerkannten Spezialisten" begutachten lassen sollten. Nun, ich nahm Urlaub, und wir fuhren hin. Auf 20 Minuten war der Termin veranschlagt. Das erste, was uns auffiel, war sein Stapel an "Kinderakten" auf seinem Schreibtisch und dass er während der "Untersuchung" ständig telefonierte - privat wohlgemerkt. Das empfanden wir bereits als Frechheit, aber als uns der Herr Doktor - ohne unseren Sohn wirklich ernsthaft in Augenschein genommen zu haben - aus dem hohlen Zahn diagnostizierte "Glauben Sie mir, ich habe schon 10000 Kinder gesehen. Ihr Sohn wird nie eigenständig leben können.", da war das ein Schock für uns. Was fängt man als junge Eltern mit so etwas an? Man bleibt geschockt und läßt sich und sein Kind weitermühlen.

Heute nach 10 Jahren ist unser Sohn der netteste Kerl, den man sich vorstellen kann, auf dem Weg zum Realschulabschluß der beste in Mathe in seiner Klasse und spielt besser Basketball als ich es je könnte. So what?

Ich will damit nicht sagen, dass das alles zum Schaden unserer Kinder war, aber meine Erfahrung ist, dass junge Eltern diesbezüglich oft überfordert werden und überfordert sind, so wie wir damals. Und das liegt nicht zuletzt an der immer mehr um sich greifenden Krake der Leistungsbewertung. Kinder werden ständig begutachtet, bewertet, beurteilt, gefördert und befördert, entlassen und allein gelassen, versetzt, umgesetzt, abgesetzt, ausser Gefecht gesetzt.

Verdammt noch mal, lasst Kinder einfach Kinder sein.

sturmfrau, Donnerstag, 16. Februar 2012, 13:24
Ich las vor ein paar Tagen diesen Beitrag hier in der Flohbude, und der passt zum Thema wie die Faust aufs Auge.

Wenn ich an Kindheit denke, dann kommt mir immer die großartige Stephen-King-Verfilmung "Stand by Me - Das Geheimnis eines Sommers" in den Sinn. Sie transportiert eine ungeheuer dichte Atmosphäre, die sich mit dem deckt, was ich erlebte. Aus meiner eigenen Kindheit erinnere ich mich nicht nur an die Bäume, in die ich kletterte. Ich erinnere mich auch, wie ich heimlich nachts mit einer Freundin den Balkon herunterkletterte, im Gepäck Kerzen und Käsebrot, und zu einer heimlichen Nachtwanderung aufbrach. Oder wie wir, mit schauriger Aufmerksamkeit und genau wie die Kinder im Film über die Bahngleise liefen, immer ein Ohr offen für den herannahenden Dieselzug, obwohl man uns eindringlich gesagt hatte, die Schienen seien tabu. Wer es durch "die Schlucht" schaffte, war besonders mutig, denn in diesem Geländeeinschnitt gab's keine Möglichkeit, auszuweichen. Ich erinnere mich, wir wir uns durch Bauzäune in die Rohbauten unserer Neubausiedlung schlichen und uns um dunkle, noch treppenlose Kellerlöcher versammelten, um mit freudigem Gruseln in das schwarze Wasser dort unten zu starren und dicke Steine hinunterplumpsen zu lassen.

Wir probierten das Fürchten, unsere eigenen Kräfte, das Fallen und Wiederaufstehen. Wir probierten das Weggehen und Wiederkommen. Wir probierten. Das ist, worin Kindsein hauptsächlich besteht. Zu rennen, was das Zeug hält, wenn dich einer am Gepäckträger deines Fahrrads festhält und droht, dir eine reinzuhauen. Auszuprobieren, wie es sich anfühlt, feige zu sein oder mutig. Das hat nichts zu tun mit der vorprogrammierten Lernwelt, wie sie heute existiert. Alles keimfrei, risikoarm, zielgerichtet. Sogar der Waldkindergarten wird zum regulierten, abgemessenen Reservat, das nur existiert, weil man irgendwann erkannt hat, dass Bewegung an der frischen Luft Kindern gut tut.

Aus Kindern reine Leistungsträger zu machen, die funktionieren und erfolgreich werden sollen, ist nichts, was ihre Grenzen erweitert, sondern es schränkt sie ein. Nicht die Persönlichkeit zählt, sondern der Output. Wer scheitert, ist raus. Dabei gehört Scheitern dazu, sonst wird der Mensch nicht ganz. Die meisten Aspekte des Menschseins werden ausgeblendet. Das Kind soll mal alle Möglichkeiten haben, soll alles können, muss alles können, keine Chance verpassen (Chance zu was?). Dabei will es doch bloß sein.

tomkin, Donnerstag, 16. Februar 2012, 14:29
Danke, liebe sturmfrau, für diesen wunderbaren Beitrag. Ich wünschte, viele Eltern - junge wie alteingesessene - würden sich die Denkanstöße darin zu Herzen nehmen. Vielleicht kommen wir irgendwann mal wieder heraus aus diesem Sumpf.

Nur das ist ein Erkenntnisprozess, den wir als Elterngeneration erst (erneut) durchlaufen müssen. Bevor ich vor 15 Jahren das erste mal Vater wurde dachte ich, wir damals hatten nicht so viele Möglichkeiten wie heute und müssten deshalb alle diese Möglichkeiten nutzen. Doch irgendwann - u.a nach den beschriebenen Erfahrungen mit meinen Kindern - stellte ich fest, wir hatten mehr Möglichkeiten, uns selbst zu entfalten. Die Kinder heute werden (meistens) entfaltet. Meistens. Zum Glück gibt es Ausnahmen, nur die muss man erst finden.

sturmfrau, Donnerstag, 16. Februar 2012, 15:20
Ich denke, dass viele Eltern da nicht aus ihrer Haut können, denn Bewusstsein ergibt sich erst durch Erfahrung, und man ist Teil der Maschinerie, was es schwierig macht, sich über die Umstände hinwegzusetzen. Wir selbst haben ja die Maßstäbe von Leistung und Erfolg so sehr verinnerlicht, dass uns nicht in den Sinn kommt, dass uns allen das nicht gerecht wird. Wir halten in der Tat für gut, was uns Erfolg verspricht. Das um so mehr, als dass wir deutlich vor Augen geführt bekommen (medial, aber auch im Alltag), was mit denen geschieht, die scheitern. Die werden vom System fein vermahlen und am Ende ausgelaugt wieder ausgespuckt. Erst, wenn man dieses Gefüge als Ganzes zu hinterfragen lernt, hat man eine Chance, und erst das definiert eine neue Wirklichkeit, die wir begreifen können.

kopfschuetteln, Donnerstag, 16. Februar 2012, 15:03
ich habe ihren beitrag mal verlinkt, ist doch ok, oder?

tomkin, Donnerstag, 16. Februar 2012, 15:24
Aber sicher ist das ok. Ich fühle mich geehrt.

kopfschuetteln, Freitag, 17. Februar 2012, 10:05
ich fühle mich auch geehrt. :-)

jagothello, Sonntag, 19. Februar 2012, 00:06
Leistungen müssen bewertet werden, sonst entwerten sie sich gewissermaßen von selbst- auch in den Augen der Kinder. Generell ist das kein quantitatives, sondern ein qualitatives Problem. Schulen leisten diese Kernarbeit ihres Auftrags oft genug wenig konzeptionell, also zu wenig einheitlich, transparent, konstruktiv, valide- professionell. Ihr Sohn scheint da ein leuchtendes Beispiel für zu sein. Andererseits ist ja wohl auch sein Weg nicht ganz unabhängig gewesen von der helfenden Arbeit späterer Bildungseinrichtungen.

tomkin, Sonntag, 19. Februar 2012, 01:30
Nun, ich bin nicht der Meinung, dass eine Leistung sich grundsätzlich selbst entwertet, nur weil sie nicht bewertet wurde. Ein Beispiel: Wenn ich es geschafft habe, ein kaputtes Gerät zu reparieren, dann ist nicht die Bewertung ("haste toll gemacht") das Entscheidende, sondern dass das Gerät wieder funktioniert. Eine Leistung wird meistens bereits durch ihr Ergebnis bewertet.

Entscheidend ist auch das Ziel der Leistungsbewertung. Geht es darum, eine Leistung zu würdigen, dann bin ich bei Ihnen. Geht es allerdings darum, Vergleichbarkeit zum Zweck der Aussonderung herzustellen, so bin ich strikt dagegen. Es gibt unzählige Beispiele dafür. Die Leistungsbewertung in der Grundschule beispielsweise hat ausschließlich den Zweck, die Kinder im Sinne des dreigliedrigen Schulsystems zu sortieren (das sogenannte "Grundschulabi"). Wenn man sich den daraus entstehenden Leistungsdruck ansieht, den Kinder im Alter von 6 - 10 Jahren deshalb bereits aushalten müssen, dann ist das nicht zum Nutzen, sondern zu Lasten der Kinder. Nicht zuletzt, weil viele diesem Leistungsdruck nicht gerecht werden (können).

Dieses Aussonderungsprinzip zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Gesellschaft. Im Studium - man musste Scheine machen, die nur die Hälfte hat bestehen können. Am Arbeitsplatz - die älteren Mitarbeiter werden durch junge dynamische billigere ersetzt. Es gäbe noch viel mehr Beispiele zu nennen.

Gesellschaftlich betrachtet ist das Resultat davon nur, dass die Kinder frühzeitig die Kategorisierung in "tauglich" und "untauglich" zu spüren bekommen. Und das fatale daran ist, dass sie - einmal als "untauglich" stigmatisiert - es schwer haben, irgendwann wieder als "tauglich" zu gelten. Und da schließt sich der Kreis mit meinem Beitrag.

Das Beispiel mit meinem Sohn zeigt, dass diese Stigmatisierung oftmals bar jeder Grundlage aus einem anderen Interesse heraus geschieht, als zum Wohl des Kindes.

sturmfrau, Sonntag, 19. Februar 2012, 11:36
Das Manko der Bewertungsmaßstäbe ist auch, dass deutlich kategorisiert wird, was eigentlich eine anerkennenswerte Leistung ist und was nicht. Es gibt Eigenschaften, Fächer, Fähigkeiten, die in unserer heutigen Gesellschaft hoch bewertet werden. Darunter fallen zum Beispiel Schnelligkeit, Flexibilität, Abstraktionsvermögen, Durchsetzungsvermögen, Ehrgeiz. Geisteswissenschaften werden im schulischen wie universitären Bereich deutlich geringer bewertet als Wirtschafts- und Naturwissenschaften. Und auch wenn unter dem Buzzword "social skills" allgemein so getan wird, als würden soziale, zwischenmenschliche Fähigkeiten höher bewertet als zuvor, so ist das doch in der Lebensrealität der meisten Menschen etwas ganz anderes. Insbesondere in der Arbeitswelt geht es einfach mehr denn je darum, wer sich durchsetzt, die besten Ideen hat und sie vermittelt, anstatt wer am nettesten zu wem ist.

Ich glaube (ich kann das jetzt aber leider nicht ad hoc belegen), es gab mal Studien zu Unterricht ohne Notengebung, und man stellte fest, dass Kinder da nicht weniger lernen oder schlechter sind. Wir haben uns nur so an die vergleichende Bewertung gewöhnt, dass wir nicht mehr in der Lage sind, sie nicht zu denken. Druck ist der Feind jeglicher Neugier, und eigentlich sind Kinder von Hause aus neugierig. Sie wird ihnen nur abtrainiert, indem man von vornherein deutlich macht, welches Verhalten erwünscht ist und welches nicht, und was Gegenstand ihrers Forscherdrangs zu sein hat und was nicht.

Was mich daran so stört ist, dass man so schnell dann bei der Hand ist, zu sagen: "Ja, aber die Welt da draußen ist nun mal hart und ungemütlich, und das Kind muss sich nun einmal später dort zurechtfinden." Das wirkt immer so, als sei das System, in dem wir leben, von einer höheren Macht oder vom Schicksal so gewollt, und es bliebe uns nichts übrig, als uns dem auf Gedeih und Verderb anzupassen und unterzuordnen. Dabei sind es Kinder, die etwas anderes lernen, die am Ende dieses System auch hinterfragen und verändern können. Wenn sie aber in Schemata gepresst werden, dann kann sich auch nichts verändern.

tomkin, Sonntag, 19. Februar 2012, 12:13
Es gibt mehrere Ansätze, ohne Notengebung auszukommen. Hier seien mal nur die bekannntesten, Montessori, Waldorfpädagogik und Jenaplan aufgeführt. Allen gemeinsam ist der Ansatz, das selektive Bewertungssystem der staatlichen Schule durch ein Konzept eines persönlichen Lernplans zu ersetzen, das es erlaubt - bei Jenaplan auf Basis eines Punktesystems - diejenigen Lerninhalte zu vertiefen, die für die Kinder am wichtigsten sind. Hierbei ist auch wichtig, dass dieser Lernplan von Schule, Eltern und Kindern gemeinsam erarbeitet wird.

Leider sind diese Schulen vergleichsweise dünn gesät und die Plätze sind sehr gefragt.

jagothello, Sonntag, 19. Februar 2012, 13:12
Geisteswissenschaften bzw. sprachliche Disziplinen werden in Schulen nicht weniger gewichtet. Das klare Gegenteil ist der Fall! Gymnasien jedenfalls funktionieren zu 90% über Sprache, das gilt gerade für Naturwissenschaften. Die sprachlich begabten Kinder durchdringen Sachverhalte weitaus besser, präsentieren sicherer, gehen kompetenter mit Schulbüchern um usw.usf. Selbst die Mathematik fußt auf schulischem Niveau in erster Linie auf semantischem Verstehen. Ökonomische Fächer (schon wieder Geisteswissenschaften!) sind auf dem Vormarsch, jedenfalls in NRW und dort an Gesamtschulen- da haben Sie recht. Ansonsten gibt es aber immer noch den vollständig antiquierten Kanon aus 200-jähriger Tradition...
Dass eine Gesellschaft über volkswirtschaftlichen Nutzen ihrer Bildungseinrichtungen nachdenkt, muss ihr schon zugestanden sein. Die rheinische Versicherungswirtschaft etwa greift jährlich 2000 Mathematiker aus Fernost ab- fachlich top ausgebildet, 22-jährig, hungrig. Derlei Tendenzen muss man sich stellen- auch als Verfechter reformierter Schulformkonzepte. Übrigens geben auch die Montessori-Schulen Ziffernnoten genau wie alle anderen Grundschulen und sie sprechen selbstverständlich auch Schulformempfehlungen aus (wenn auch gezwungenermaßen). Als didaktischer Leiter einer großen Schule gebe ich Ihnen gerne zu, dass die Montessori-Grundschüler sehr häufig außergewöhnliche Fähigkeiten mitbringen.
Ansonsten: Sie stellen die Systemfrage! Das ist berechtigt, natürlich. Die Mehrgliedrigkeit gehört abgeschafft. Deutschland ist neben Österreich das einzige Land weltweit, das sich den Mumpitz erlaubt, vier Schulformen nebeneinander zu unterhalten, obgleich die Effekte gemeinsamen Lernens belegt sind. In diesem Kontext kann auch eine professionelle (längst nicht bloß selektierende!) Leistungsbewertung Kinder stärken.
PS Von Eltern mitgestaltete Lehrpläne... das gibt es seit 2006, also seit der Zentralisierung von Prüfungen, in Deutschland nicht mehr. Man muss auch das nicht mögen aber dennoch: Im Sinne von Transparenz und Vergleichbarkeit ist es richtig, Sozialchancen nach klaren Standards zu vergeben.

tomkin, Sonntag, 19. Februar 2012, 14:30
Nun, lieber jagothello, es ist gut zu wissen, dass Sie als Schuleiter sich an der Diskussion dieser Systemfrage hier bei mir beteiligen. Ich danke Ihnen dafür.

Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, dass das mehrgliedrige Schulsystem abgeschafft gehört. Nicht zuletzt dieser Mumpitz - Danke für die Zustimmung :-) - führt zu einem unerträglichen Druck, der die Kinder mehr behindert als fördert und zuviele (unnötig) durch das Raster fallen läßt. Die Kultuspolitik hält bisweilen krampfhaft an diesem Mumpitz fest, und begründet das auch noch mit dem fragwürdigen Abschneiden bei den PISA-Studien. Leider können besonders wir hier in Bayern dazu ein besonderes Lied singen, da bekanntlich Bayern bei PISA noch vergleichweise gut abgeschnitten hat. Dies ist aber meiner Meinung nach nicht eine Folge einer guten Bildungspolitik hier, sondern eher eine Folge der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung in Bayern - wer Arbeit hat, dem geht es gut. Folglich sind auch die Kinder lernwilliger und lernfähiger.

... Lehrpläne ... Ich meinte eigentlich Lernpläne. Der Lehrplan - also was ist der Lerninhalt - ist ja vorgegeben durch die Anforderungen an staatlich anerkannte Abschlüsse. Der gemeinsame Standard ist somit definiert. Die Umsetzung - also wie und wann wird der Stoff durchgenommen - kann aber durchaus flexibel gestaltet werden. Leider wird das durch die Beschränkungen und Vorgaben des Kultusministeriums oft sehr erschwert.

Natürlich muss auch eine gewisse Vergleichbarkeit zum Zweck der Transparenz gegeben sein. Das ist nicht das, was ich hier bemängele. Ich bemängele die Instrumentalisierung dieser Vergleichbarkeit als Aussonderungsprinzip - letztendlich zum Schaden der Kinder.

jagothello, Sonntag, 19. Februar 2012, 16:14
Dem ist nicht viel hinzuzufügen, außer, dass ich kein Schulleiter bin... Die von Ihnen favorisierte Lernplanarbeit scheint mir einiges Potential zu haben.

Dass Bayern bei PISA besser abschneidet, ist ein ausgesprochen spannender Aspekt der Angelegenheit. Am Bildungssystem liegt es sicher nicht, da stimme ich zu. Wirtschaftlich prosperierende Regionen locken aber bildungsbeflissene, intelligente Menschen an. Insofern ist ökonomische Standortpolitik eine Investition in Bildung. Besser wäre es wahrscheinlich, wenn das überregional in einem größeren Zusammenhang gesehen würde. Aber da ist nicht nur der olle Seehofer vor.

tomkin, Sonntag, 19. Februar 2012, 16:50
Oh, Verzeihung, da habe ich aus einem didaktischen Leiter einen Schulleiter gemacht. Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden ...

So oder so, Sie scheinen zu wissen, wovon Sie reden.

Oh ja, unser Seehofer. Wobei der, denke ich, nicht mal das primäre Problem ist. Das Kultusministerium steckt - natürlich nicht nur in Bayern - zu tief im finanziellen System fest. Reformwille gäbs da schon, nur gibt's eben kein Geld dafür. Aber das ist ein anderes Thema.

sturmfrau, Montag, 20. Februar 2012, 10:38
Jagothello, Sie schrieben:
Geisteswissenschaften bzw. sprachliche Disziplinen werden in Schulen nicht weniger gewichtet.

Das habe ich auch nicht sagen wollen. Mir ist bewusst, dass diese Fächer zumindest gleichberechtigt auf dem Lehrplan stehen und dass sie unabdingbar sind. Ich schrieb, sie würden geringer bewertet, nicht weniger gewichtet. Damit meine ich, dass im allgemeinen Verständnis diese Fächer als "Laberfächer" gelten und nicht zeitlich oder notentechnisch, sondern vom inneren Wert her als weniger wichtig eingestuft sind. Das ist allerdings nur mein subjektiver Eindruck aus Schule und Uni, die ich im Gegensatz zu Ihnen nur einmal "durchlaufen" habe.

Sie schreiben außerdem:
Dass eine Gesellschaft über volkswirtschaftlichen Nutzen ihrer Bildungseinrichtungen nachdenkt, muss ihr schon zugestanden sein. Die rheinische Versicherungswirtschaft etwa greift jährlich 2000 Mathematiker aus Fernost ab- fachlich top ausgebildet, 22-jährig, hungrig. Derlei Tendenzen muss man sich stellen- auch als Verfechter reformierter Schulformkonzepte.

Ich sehe das ein bisschen anders. Man kann sich nicht beklagen über schlecht ausgebildete und wenig motivierte Schüler, Azubis und Studenten, ohne gleichzeitig zu überlegen, woher das kommt. Es ist nicht so, dass wir zuwenig auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgerichtet sind, sondern wir sind es zu sehr. Dieser Zustand ist nichts Schicksalhaftes, sondern wir haben ihn selbst gemacht. Nur weil aus Fernost erfolgsgetrimmte Wirtschaftsroboter nachstreben, heißt das nicht, dass es unser Ziel sein muss, so zu leben. Der Kapitalismus ist überreif und durchgesessen, wie sich sehr deutlich an den weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrisen zeigt. Durch ein "Mehr, mehr, mehr..." wird es nicht besser, davon bin ich überzeugt.

jagothello, Montag, 20. Februar 2012, 19:22
Sie werden geringer bewertet? Das sehe ich ganz und gar nicht. Die klassischen Disziplinen, nach denen Kinder in der Sekundarstufe I taxiert werden, sind zu 2/3 sprachlicher Natur: Deutsch, Englisch und Mathematik. In diesen Fächern werden in den Klassen 3, 8 und 10 zentrale Tests geschrieben und abgesehen von einem Schwerpunktjahr "Naturwissenschaften" sind das auch die PISA- Testbereiche. Innerhalb von Schulen hat eine subjektive Bewertung von Relevanz viel mit der Autorität der unterrichtenden KollegInnen zu tun, die ihre Fachbereiche vertreten; mal stark, mal schwach. Auch ein Fach wie "Religion" kann erstklassig- professionell unterrichtet werden und seine Bedeutung auf diese Art und Weise unter Beweis stellen. Mathematiker werden qua Fach ernster genommen- a priori, obwohl sie es didaktisch einfacher haben. Da haben Sie schon Recht.
Schüler selbst beten gerne die Dreifaltigkeit der Hauptfächer D, M, E herunter- ihre Eltern zumal.
Was Sie sagen zu der Verwertbarkeit von Bildung...: Da habe ich meine Verzweiflung in mindestens 20 Blog-Beiträgen bei mir "drüben" herausgetrötet und tue das auch an anderer Stelle, zum Beispiel in der Schule, immer und immer wieder. Die Schlacht gegen die Bertelsmann-Stiftung ist nicht mehr zu gewinnen und organisiert versucht das meiner Wahrnehmung auch niemand.
Die Kuh wird vom Wiegen nicht fetter. Dass sie zu dünn ist, stimmt aber genauso. Übrigens habe ich mich an keiner Stelle über Schüler beklagt. Erst sind eigene Hausaufgaben zu machen.

sturmfrau, Montag, 20. Februar 2012, 20:28
Übrigens habe ich mich an keiner Stelle über Schüler beklagt.

Eben, deshalb schrieb ich ja auch "man kann...", nicht "Sie können..." ;-)

tomkin, Dienstag, 21. Februar 2012, 21:49
Wenn ich meine eigene Schulzeit revue passieren lasse, dann kann ich auch nicht sagen, dass Fächer mit geistenwissenschaftlichem Inhalt weniger wichtig gewesen wären. Wir mussten auch an einem technisch orientierten Gymnasium Unmengen entsprechender Kurse belegen. Und am Ende war meine Abi-Prüfung in Englisch und Geschichte genauso wichtig, wie die in Mathe.

Nun, ich würde mich nicht als schlechten Schüler in diesen Fächern bezeichnen - eine 3 ging immer irgendwie -, nur ich war ein relativ ruhiger Schüler. Dementsprechend gab mir damals schon die Subjektivität der mündlichen Leistungsbewertung manchmal zu denken.

Eine kleine Anekdote dazu. Als ich meine mündliche Abi-Prüfung in Geschichte hatte, war in der Prüfungskommission meine Geschichtelehrerin, mein Französischlehrer und mein Politiklehrer. Meine Geschichtelehrerin sprach die Einleitung, die Fragen hat mein Französischlehrer gestellt und mein Politiklehrer hat nur noch Bauklötze gestaunt. Als ich dann mit 14 Punkten in der Hand aus dem Prüfungsraum ging, sprach mich mein Politiklehrer an. "Tomkin, Sie sind ja nicht wieder zu erkennen gewesen. Warum haben Sie im Politikunterricht nicht so mitgearbeitet?" "Tja, Herr Politiklehrer, ehe ich den Finger heben konnte hatten Sie eben schon jemand anderes drangenommen. Warum soll ich da noch etwas sagen?"

Diese Subjektivität war in den Fächern Mathe, Naturwissenschaften, Technik usw. nicht so eindeutig erkennbar.
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